Herausforderungen an das deutsche Bildungssystem im Migrationszeitalter

Veröffentlicht am 13.07.2008 in Veranstaltungen
Ute Vogt

Die Veranstaltungsreihe „Bildungsaufbruch“ des SPD-Kreisverbandes Calw wurde zusammen mit dem JUSO-Kreisverband Calw am 8. Juli 2008 in Nagold fortgesetzt. 100 Gäste kamen zum Thema „Herausforderungen an das deutsche Bildungssystem im Migrationszeitalter“ ins Naturfreundehaus.

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Ute Vogt, MdL diskutiert mit Calwer SPD
Prominenteste Referentin auf dem Podium war Ute Vogt, SPD-Landesvorsitzende von Baden-Württemberg, sie sprach über "Bildung als Schlüssel zu Integration“. Bekir Alboga, Sprecher des Koordinationsrates der Muslime in Deutschland und erster Ansprechpartner der Bundesregierung in Fragen von Religion und Integration, beleuchtetet in seinem Vortrag die Bildungssituation der Migranten, speziell der Türken, im Einwanderungsland Deutschland. Erfahrungsberichte von Herrn Gerd Streib (Rektor der Lembergschule GHS mit Werkrealschule Nagold) und von Günay Sahin (Schwarzwaldbildungsverein, Nachhilfeverein) aus dem Landkreis Calw schlossen die Vorträge ab. Danach hatte das Publikum, darunter viele Teilnehmer mit Migrationshintergrund, Gelegenheit, mit den Referenten zu diskutieren.

Dipper

Kreisvorsitzender Richard Dipper begrüßte rund 100 Gäste
Die PISA-Studie habe die Schwächen des deutschen Schulsystems aufgedeckt, so Kreisvorsitzender Richard Dipper in seiner Begrüßung.
In keinem anderen Industrieland hänge der Erfolg der Schüler von der Herkunft der Eltern so sehr ab wie in Deutschland. Die daraus resultierende Chancenungleichheit treffe besonders auch Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund. Sich mit dieser Problematik zu befassen sei längst überfällig und Ziel dieses Abends.

Abdüselam Dal
Statistiken belegen ungleiche Bildungschancen
Abdüselam Dal vom Ortsverein Nagold machte an Hand von Statistiken das Ausmaß des Problems deutlich. In seiner Einführung zum Thema belegte er mit Zahlen die gravierenden Unterschiede in den Bildungschancen von deutschen Schülern und solchen mit Migrationshintergrund. So ginge der größte Anteil ausländischer Schüler auf die Hauptschule. Der Anteil der Schüler und Schülerinnen, die die Schule ohne Abschluss verlassen, sei bei solchen mit Migrations¬hintergrund dreimal so hoch wie bei deutschen Schulabgängern. Auch hätten es junge Menschen aus Einwandererfamilien besonders schwer, einen Ausbildungsplatz zu finden.

Ute Vogt fordert gleiche Bildungschancen für Migranten und Migrantinnen
Bildung sei ein zentrales soziales Anliegen, denn ihr Ziel sei nicht nur Kompetenzerwerb, sondern die Entwicklung des ganzen Menschen: der Persönlichkeit, der Selbstbestimmung, der Handlungs- und Kritikfähigkeit. Nur dann sei ein eigenständiges, teilhabendes Leben in einer demokratischen Gesellschaft möglich. In diesem Sinne sei Bildung auch für eine gelingende Integration von ausschlaggebender Bedeutung.
„Es gibt keine logische Erklärung für den Bildungsrückstand von Kindern mit Migrationshintergrund“, so Ute Vogt, „ sondern die Zahlen zeigen, dass wir den Migranten Chancen zur Entwicklung vorenthalten.

Nicht der Mangel an Begabung ist Schuld, sondern Talente werden nicht genutzt, Migranten können die in ihnen liegenden Möglichkeiten nicht entwickeln. Die Versäumnisse der Integrationspolitik und insbesondere die Schwächen des deutschen Bildungssystems hätten dazu geführt, das Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht die Chancen haben, die ihnen zustünden.

Gerade dies führt aber zu mangelnder Teilhabe und dem Gefühl ausgegrenzt zu sein, zu Unzufriedenheit und schlechter Integration.
Wie bei deutschen Kindern, hingen die Bildungschancen von der Bildungsferne bzw. –nähe des Elternhauses ab. Oft würde in diesen Elternhäusern die Bedeutung von Bildung nicht erkannt. Verschärfend wirkten bei Migrantenfamilien die mangelnden Deutschkenntnisse; vor allem auch der Mütter, da ihnen die Schule als „Nachhilfelehrerinnen der Nation“ einen großen Teil der Verantwortung für den Lernerfolg der Kinder zuschöbe. Auch dies sei eine Besonderheit des deutschen Schulsystems. Andererseits lernten diese Kinder ihrer Muttersprache oft auch nicht richtig. Muttersprachlicher Unterricht gehöre daher auch an die Schule.

Diese Folgen könnten nur korrigiert werden, wenn endlich das Schulsystem unter dem Aspekt der Chancengleichheit in Bildung und Betreuung unabhängig von Herkunft und Geldbeutel der Eltern reformiert würde. Das Bildungskonzept der SPD, das natürlich auch deutschen Kindern zugute käme, sehe unter anderem vor: Kleinere Klassen und individuelle Förderung, integrativer Unterricht und längeres gemeinsames Lernen ohne soziale Aufteilung. Flächendeckende Ganztagsschulen und Wiedereinstieg in die Schulsozialarbeit. Außerdem die schrittweise Einführung von gebührenfreien Kindergärten mit einer intensiven Sprachförderung schon im vorschulischen Bereich.

Voraussetzung für eine gelingende Integration von Migrantinnen und Migranten sei aber auch, dass sie als Bereicherung für unser Land, in kultureller wie in wirtschaftlichen Hinsicht gesehen und anerkannt würden. Voraussetzung sei Toleranz und Wertschätzung in einem gesellschaftlichen Klima des Miteinanders, des gegenseitigen Entdeckens und des Voneinanderlernens. Hierzu gehöre auch eine größere politische Partizipation von Migranten und Migrantinnen. Deshalb brauchen wir den Bildungsaufbruch in Baden-Württemberg unter dem Motto "Bessere Bildung für alle! Auch für Migranten!".

Ute Vogt, Alboga

Deutsche Islamkonferenz will Integration befördern
Bekir Alboga unterstrich Ute Vogts Forderung nach Toleranz und gegenseitiger Wertschätzung. Migranten und Migrantinnen, ursprünglich als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, hätten einen bedeutenden Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum Wohlstand geleistet. Die Anerkennung dafür sei ihnen aber weitgehend vorenthalten worden. Diskriminierung und Zurückweisung sei immer noch, bzw. seit dem Terroranschlag in New York wieder sehr verstärkt, die tägliche Erfahrung gerade auch der jungen Menschen mit Migrationshintergrund. Junge Migranten bekämen z.B. auch dann schlechter einen Ausbildungsplatz wenn sie genauso gute oder bessere Abschlussnoten hätten, wie die deutschen Bewerber.

Als Gastarbeiter längst zu Einwanderern geworden seien, weil sie blieben, ihre Kinder hier geboren wurden und aufwuchsen, verleugneten Teile der deutschen Gesellschaft, dass Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden sei. Das wollte man nicht wahr haben, die sich daraus ergebenen Probleme seien ignoriert und verdrängt worden. Integration sei gar nicht erwünscht gewesen.

Dies hätte sich erst unter der Regierung Schröder geändert, die sich den gewachsenen Problemen stellte und die erste Kommission ins Leben rief, die sich mit Fragen von Integration und Einbürgerung befasste. Ein Entwurf zu einem Integrationsgesetz sei schließlich vorgelegt worden. Selbstverständlich hätte die CDU, damals in der Opposition dies umgehend zurück gewiesen und über den Bundesrat verwässert. Bis heute stünde die CDU in diesen Fragen auf der Bremse. Die SPD sei die treibende Kraft, so auch in der deutschen Islamkonferenz.

Die deutsche Islamkonferenz, an der eine Vielzahl von islamischen Dachverbänden, so auch der Koordinationsrat der Muslime teilnehme, befasse sich mit vielfältigen Aspekten und Fragen der Integration und entwickelte Pläne diese zu befördern. Dabei würden alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Miteinanders einbezogen: deutsche Verfassung und Gesellschaftsordnung, demokratische Kultur und Gleichberechtigung, zivilgesellschaftliches Engagement und politische Teilhabe. Konkrete Pläne und Lösungen für Probleme würden erarbeitet, z.B. bezüglich des Baus von Moscheen, der Ausbildung von Imamen, der Einsetzung von Dialogbeauftragten.

Podium

Besondere Beachtung fänden die spezifischen Probleme von Bildung und Ausbildung junger Migranten: So das Erlernen der deutschen Sprache im vorschulischen und schulischen Bereich, Islamunterricht an den Schulen, Probleme der Koedukation für Moslems und Vieles mehr.

Ein Ziel der Konferenz sei auch, der häufigen Gleichsetzung von Moslems und Terroristen in der deutschen Öffentlichkeit entgegen zu wirken. Dieses Vorurteil sei, trotzdem Migrantenverbände jegliche Gewaltanwendung wiederholt verurteilt hätten, nicht auszurotten und behindere eine erfolgreiche Integration außerordentlich. Eine differenzierte Berichterstattung in den deutschen Medien sei hier sicher hilfreich.
Der Forderung Ute Vogts nach einer umfassenden Reform des Schulsystems und des Unterrichts schlösse er sich an, denn den Bildungseinrichtungen käme bei den Integrationsbemühungen eine besondere Bedeutung zu. Dabei sei Chancengerechtigkeit eine unerlässliche Voraussetzung.

Gerd Streib, Rektor der Lembergerschule

Erfahrungen aus dem Schulalltag
Gerd Streib, Rektor der Lembergerschule GHS mit Werkrealschule Nagold schilderte Eindrücke aus dem Schulalltag. Dass die Schule allein verantwortlich für das schlechtere Abschneiden von Migrantenkindern sei wies er zurück. Er beobachte allerdings auch, dass die Sprache eine zentrale Rolle in Bezug auf den Schulerfolg spiele, und zwar in zweifacher Hinsicht.

Kinder mit mangelnden Sprachkenntnissen könnten dem Unterricht nicht folgen. Dabei lernten sie umso schlechter deutsch, je mehr nicht deutsch sprechende Kinder in einer Klasse seien. Die Migrantenkinder blieben dann verstärkt unter sich und pflegten Freundschaften im Freizeitbereich weitgehend untereinander.

Da auch die Eltern, insbesondere die Mütter deutsch nicht oder nur unzulänglich beherrschten, bekäme das Kind daheim kaum Unterstützung in Bezug auf Schulprobleme. Wegen ihrer mangelnden Sprachkenntnisse nähmen die Eltern bei Schwierigkeiten keinen Kontakt zur Schule auf. Gespräche mit Lehrern, Teilnahme an Elternabenden oder eine aktive Beteiligung als Elternvertreter sei eine Seltenheit. Die Kenntnisse über das deutsche Schulsystem sein unzureichend. Die Sprache zu erlernen sei folglich für Eltern und Kinder von zentraler Bedeutung für den Schulerfolg. Wünschenswert sei, dass mehr bilinguale Lehrer mit eigenem Migrationshintergrund an den Schulen unterrichteten und das öfter Dolmetscher z.B. an Elternabenden hinzu gezogen würden.

Günay Sahin
Schulerfolg durch individuelle Betreuung
Günay Sahin vom Schwarzwaldbildungsverein, einer privaten Nachhilfeeinrichtung, zeigte auf, dass sich mit entsprechenden Maßnahmen das Verhältnis von Hauptschülern und Gymnasiasten bei Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund nahezu umdrehen lasse. Von den Schülern, die seinen Bildungsverein besuchten, seien etwa doppelt so viele Gymnasiasten wie von denen, die nur die Regelschule besuchten.

Deutlich bessere Erfolge habe er auch bei Real- und Hauptschülern. Diese Erfolge erziele er durch eine intensive individuelle Betreuung und ein bilinguales Konzept, d.h. das richtige Erlernen der Muttersprache wird genau so wichtig genommen wie das Erlernen der deutschen Sprache. Das Einbeziehen der Eltern in alle Angelegenheiten von Schule und Bildung und Freizeitangebote, z.B. ein Leseclub sichern den Schulerfolg weiter ab. Im Grunde verwende er genau die Methoden, die mit der Reform des deutschen Schulsystems und des dort herrschenden Unterrichtstils eingefordert würden.

Emine Gül
Diskussion
Äußerst lebhaft und engagiert wurde anschließend unter der Leitung von Emine Gül vom Juso-Kreisvorstand diskutiert und die vielfältigen Aspekte der Problematik ergänzt und vertieft. Einig war man sich darin, dass das deutsche Bildungssystem von der Krippe bis zur Hochschule erheblich unterfinanziert sei. Ute Vogt erläuterte, dass die für die Reformen notwendigen mittel gegenfinanziert werden müssten, so koste es allein in Baden-Württemberg etwa 250 Millionen nur ein Kindergartenjahr beitragsfrei zu stellen.

Des Weiteren war man sich darin einig, das die politische Partizipation von Migranten und ihre Beteiligung an politischen Entscheidungen zu einer erfolgreichen Integration gehöre und diese auch voran brächte, da Gleichberechtigung und Zugehörigkeitsgefühl gestärkt würden. Politikern mit Migrationshintergrund falle eine besondere Rolle und Verantwortung für die Integrationsbemühungen zu. Ute Vogt erklärte, dass insbesondere die Sozialdemokratische Partei offen für Migranten und Migrantinnen sei. Sie lud diese ausdrücklich ein sich hier verstärkt einzubringen.

Analyse Landesstatistikamt Baden-Württemberg "Bildungsintegration von Migranten" vom September 2005 (PDF)

 

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